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Deutschland und die Arbeitszeit

Deutschland und die Arbeitszeit. „In der Bundesrepublik muss mehr gearbeitet werden. Mit dem Blick auf die Work-Life-Balance kommen wir nicht aus der Krise raus!“ So oder so ähnlich äußert sich Kanzler Merz über die deutsche Arbeitsmoral und viele Stimmen aus Wirtschaft und Wissenschaft pflichten ihm bei. Hat Friedrich Merz recht mit seiner Forderung? Irgendwie ja – aber irgendwie auch nicht. Das Problem in der Kommunikation liegt mal wieder in der absolut nicht hilfreichen Pauschalisierung der Feststellung.

Arbeiten die Deutschen genug?

Der Blick auf die Fakten

Im Durchschnitt hat jeder deutsche Arbeitnehmer Anspruch auf 30 Tage Urlaub. Dazu kommen in der Regel 10 Feiertage, was von Bundesland zu Bundesland variiert. Führt man sich dann noch vor Augen, dass sich in Mittel jeder Arbeitnehmer zwischen 15 und 19 Tagen pro Jahr im Krankenstand befinden, kann man schon ins Grübeln kommen. Das sind zusammen zwischen 55 bis 60 Tage Abwesenheit vom Arbeitsplatz pro Jahr. Damit ist Deutschland international absoluter Spitzenreiter beim Thema Ausfallzeiten. Wir leben rechnerisch schon längst mit einer rechnerischen Vier-Tage-Woche. Rein faktisch ist gegen die Feststellung des Bundeskanzlers also nichts einzuwenden. Und dass das nicht so bleiben kann, wenn wir unsere schwache Wirtschaft wieder in Schwung bringen wollen, steht wohl außer Frage.

Das höchste Wohlstandsniveau auf der Grundlage des geringsten Arbeitsaufkommen erwirtschaften zu wollen, das erinnert an die Quadratur des Kreises.

Und dennoch hat der Bundeskanzler nicht nur recht!

Viele arbeiten viel zu viel

Es gibt Berufsbereiche, in denen die Beschäftigten längst an und über der Belastungsgrenze arbeiten, in der Pflege, in Kliniken, bei der Polizei, der Feuerwehr und den Rettungsdiensten. Viele Arbeitnehmer leisten in ihren Betrieben fast täglich Überstunden und bieten ein hohes Maß an Flexibilität. Das gilt aber eben nicht für alle. Deutschland hat ein hohes Maß an Arbeitslosen. Die können oftmals nicht vermittelt werden, weil sie über keinerlei Qualifikation verfügen, was kein „Schicksal“ ist, sondern oftmals selbstverschuldet. Viele Frauen würden sehr gerne viel länger arbeiten, sie finden aber keine Betreuungsplätze für ihre Kinder, obwohl es darauf sogar einen verbrieften Rechtsanspruch gibt. Viele Arbeitnehmer in Niedriglohnsektor gehen oftmals mehr als einer Tätigkeit nach, weil es sonst nicht zum Leben reicht. All den Bemühten und Fleißigen müssen die Worte des Bundeskanzlers in den Ohren schrillen, weil sie völlig zu unrecht in Mithaftung genommen werden. In Wahrheit ist die Arbeit in Deutschland ungleich verteilt. Vor diesem Hintergrund ist das Ausscheiden einer immer größer werdenden Gruppe von Arbeitnehmern in den Rentenstatus wie ein Brandbeschleuniger des wirtschaftlichen Abstiegs.

Der Weg zur Lösung

Tatsächlich muss das Arbeitsvolumen gesteigert werden. Dazu müssen viele Empfänger von Transferleistungen an die Arbeit geführt werden. Dasselbe gilt für Menschen mit Migrationshintergrund, die oftmals arbeiten wollen, deren Abschlüsse aber aus rein bürokratischen Gründen nicht anerkannt werden. Frauen müssen als Arbeitnehmerinnen durch die Verbreiterung des Betreuungsangebots für Kinder unterstützt werden. Vermutlich müssen wir auch neu über „Arbeit“ als sinnstiftenden Teil des Lebens nachdenken. Die Ideologie der Work-Life-Balance suggeriert, dass Work keine „Lebenszeit“ sei. In einem gelungenen Leben ist der Bereich „Arbeit“ nicht nur die materielle Grundlage der Existenzsicherung, sondern integraler Bestandteil der individuellen Identität. Vielleicht müssen auch gesellschaftliche Institutionen wie Gewerkschaften ihre Forderungskataloge überdenken. Es macht wenig Sinn, einerseits das Recht auf Arbeit zu manifestieren und die Bereitstellung dieser Arbeit von der Wirtschaft zu fordern, um sich im nächsten Augenblick für die Einführung der flächendeckenden Vier-Tage-Woche einzusetzen. Wer Arbeit fordert, das aber in immer kleinerem Umfang – und gleichzeitig wachsenden Wohlstand für alle will, ist ein „Zauberlehrling“, der die Geister nicht beherrscht, die er anruft.