Was ist demokratisch – legitim?
Was ist demokratisch – legitim? Die Ereignisse im Bundestag am gestrigen Tag haben wohl niemanden unberührt gelassen. Sie brauchen deshalb an dieser Stelle auch nicht noch einmal geschildert zu werden. Stattdessen wollen wir einer Frage nachgehen, die die sich am gestrigen Tag als zentral zeigte: wie viel Verweigerung im demokratischen Prozess verträgt eine handlungsfähige Politik?
Dem eigenen Gewissen verpflichtet
Wer als Abgeordneter im parlamentarischen Räderwerk Verantwortung übernimmt, steht grundsätzlich zwischen der Loyalität zur eigenen Fraktion und der Verantwortung gegenüber dem eigenen Gewissen. Das ist keine leichte Aufgabe, entspricht aber der Idee unserer freiheitlichen Grundordnung und verlangt einen immer neuen Abwägungsprozess, der viele Fragen aufwirft.
Es ist ein fundamentaler Bestandteil der Demokratie, dass politische Prozesse immer die Einigung auf einen Kompromiss bedeutet. Links und rechts davon vollzieht sich Politik im unfreien Raum oligarchischer, ja sogar diktatorischer Strukturen. Gleichzeitig folgt aus der Notwendigkeit zum Kompromiss die Tatsache, dass sich im Klärungsprozess von Entscheidungen nie eine volle Übereinstimmung zwischen der eigenen politischen Position und dem Gesamtergebnis ergeben wird. Der Abgeordnete steht dabei permanent in einem Prozess der Annäherung durch Diskussion, das ist unser demokratisches Selbstverständnis. Wer sich aber der Zustimmung zum Kompromiss verweigert, begibt sich in eine politische Grauzone, die die Demokratie im Einzelfall schädigt oder sogar zerstört.
Der Grenzfall
Der Dialog mit dem eigenen Gewissen ist ein extrem komplexer Vorgang, da er die eigene politische Gesinnung mit der komplizierten und durch viele Faktoren bestimmten äußeren Faktoren in einen Abgleich bringen muss. Darin bewährt sich der parlamentarische Abgeordnete in seiner mehrfach durch unterschiedliche Aspekte beeinflussten Standortbestimmung.
Schwierig wird es, wenn bei der Bestimmung der eigenen Position rein persönliche Interessen eine Rolle spielen. Da darf es nicht sein, dass Enttäuschung, menschliche Animosität oder Missgunst Einfluss nehmen.
Die Forderung nach umfassender Deckungsgleichheit der eigenen politischen Agenda mit der Zielformulierung des politischen Handelns ist ebenso wenig statthaft, weil undemokratisch und außerhalb jeder Realität.
Das ganze Bild
Die Basis der eigenen Gewissenserforschung kann nur der Blick auf die gesamtpolitischen Rahmenbedingungen sein. Putin führt seit Jahren einen menschenverachtenden Angriffskrieg gegen die Ukraine, Amerika hat sich als Bündnispartner verabschiedet und zerstört mutwillig das System bewährter internationaler Wirtschaftsbeziehungen, die irreguläre Migration läuft aus dem Ruder und die eigene Wirtschaft produziert seit drei Jahren kein Wachstum mehr. Wer als Abgeordneter der Parteien, die sich auf ein gemeinsames Regieren und einen entsprechenden Koalitionsvertrag geeinigt haben, das Recht nimmt, vor dem Hintergrund der politischen Gesamtlage aus einem der oben genannten Gründe die Regierungsbildung zu sabotieren, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er zu Recht Teil des Parlaments ist. Demokratisches Verantwortungsbewusstsein bedeutet etwas anderes. Was unser Staat jetzt braucht, ist eine handlungsstarke Regierung. Und das sollte in den nächsten vier Jahren die Orientierung des parlamentarischen Geschehens bestimmen, auch wenn man nicht mit allen Personen und Positionen übereinstimmt.
Die Alternative, die keine ist
Völlig unverständlich ist die latente Inkaufnahme einer Staatskrise durch Verweigerung vor dem Hintergrund eines immer stärker werdenden Rechtsradikalismus. Die Verfassungsbehörde hat die AfD in ihrer Gesamtheit als rechtsradikal beurteilt. Dieser Vorgang wird seine Legitimation erst nach Prüfung des 1.100-seitigen Berichts bekommen und sei deshalb hier nicht kommentiert. Stattdessen sei auf eine Reaktion des thüringischen Landesvorsitzenden der AfD, Björn Hocke, verwiesen, der seinerseits als Kommentar einen Tweet formulierte. In dem droht er den Mitarbeitern der Verfassungsbehörde für spätere Zeiten mit existenziellen Konsequenzen – „mitgefangen, mit gehangen“. Der Tweet wurde später gelöscht. Dumm, wenn man einen Verdacht von sich lenken will, indem man ihn bestätigt.
Ist vor dieser Bedrohung der Demokratie durch eine demokratisch wählbare Partei die Stärkung der politischen Mitte in unserem Staat nicht geradezu eine Pflicht? Markus Söder nannte die sich gerade bildende Regierung in ihrer Verpflichtung zum Erfolg die „letzte Patrone der Demokratie“. Wie fahrlässig ist es, diese Patrone beim Laden des Gewehrs im Unterholz zu verlieren oder, schlimmer noch, ohne Anlass verpuffen zu lassen.
Man kann von Bürgern kein staatsbürgerliches Bewusstsein erwarten, wenn man es als Parlamentarier selbst nicht aufbringt.